Musik 1: Shallows
Titel: Shallows; Text: Elena Tonra, Igor Haefeli; Interpretin:
Daughter; Album: If You Leave; Label: 4ad/Beggars Group/Indigo; LC:
unbekannt
Autor
(overvoice): Ein
Mann erzählt aus seinem Leben. Als Kind erlebt er eine Katastrophe. Einen
Tsunami. Die Riesenwelle reißt seinen Freund mit. Seitdem fühlt der Mann sich
schuldig. Hat Albträume. Verlässt seine Heimat. Der japanische Schriftsteller
Haruki Murakami berichtet seine Geschichte in einer kleinen Erzählung: „Der
siebte Mann“. Am Ende wird der Mann von seinen Schuldgefühlen befreit. Und mich
bewegt sehr, wie
es zu dieser Befreiung kommt.
Musik 1:
Shallows (freistehend)
Autor: Sieben Personen sitzen in einem
Zimmer. Draußen heult der Wind. Sie erzählen sich die Geschichten ihres Lebens.
Murakami schafft damit einen Rahmen wie Joseph Conrad in seiner berühmten
Erzählung „Herz der Finsternis“. Auch bei Conrad sitzen ein paar Männer
zusammen. Sie erzählen sich von dem, was ihr Leben verändert hat. Von
Abgründen, in die sie geblickt haben. Und davon, wie sie mit dem Gefühl der
Schuld umgegangen sind. Im Herz der Finsternis geht es um eine Reise in den
Kongo. Murakami nimmt seine Leser mit nach Japan. In die Jugend seines Helden.
Auch hier geht es um Wesentliches. Keine belanglose Plauderei. Sondern was hier
erzählt wird, geht mitten ins Herz. Es hat mit den Abgründen der Seele zu tun.
Und mit ihrer Heilung.
Sprecherin:
„Einmal
wäre ich beinahe von einer Welle fortgerissen worden. Das war an einem
Nachmittag, als ich zehn war. Es war die riesigste Welle, die ich je gesehen
habe. […] Ich bin ihr knapp entgangen, doch dafür verschlang sie alles, was mir
wichtig war, und riss es mit sich in eine andere Welt.“ (S. 195)
Autor: Alles, was ihm wichtig war. Der
Tsunami hat den Freund des Mannes mit sich gerissen. Beim Erzählen nennt er ihn
K. Seit er denken kann, hat er diesen besten Freund. Sie wohnen nah beieinander
in einem japanischen Küstenstädtchen. Die beiden gehen auf dieselbe Schule.
Sind wie Brüder. Im Laufe ihrer Freundschaft streiten sie sich kein einziges
Mal.
Sprecherin:
K. war ein
dünnes, blasses Kind, mit einem fast mädchenhaft hübschen Gesicht. Er hatte
allerdings einen Sprachfehler, und man verstand ihn schwer; wer ihn nicht
kannte, hielt ihn möglicherweise sogar für geistig behindert. Und da er so zart
war, spielte ich in der Schule wie außerhalb immer die Rolle seines
Beschützers. (S. 196)
Autor: Der Freund ist kein guter Schüler.
Aber im Zeichnen ist er hochbegabt. Seine Bilder sind ausdrucksvoll und
lebendig. Er malt Landschaften, vor allem Seestücke. Am liebsten ist er am
Strand und zeichnet. Der Erzähler sitzt oft neben ihm und schaut ihm beim Malen
zu. Im September kündigt das Radio einen Taifun an. Den schwersten seit Jahren.
Heute denke ich an die Katastrophe von Fukushima. Das Erdbeben und den Tsunami,
der die große Reaktorkatastrophe auslöste. Doch Murakami hat seine Erzählung
schon fünfzehn Jahre davor geschrieben.
Kurz nach
Mittag ändert der Himmel seine Farbe. Der Wind beginnt zu heulen. Der Regen
peitscht mit einem seltsam trockenen Prasseln ans Haus. Eine Stunde lang wütet
der Taifun. Er versucht, alles zu entwurzeln und mit sich zu tragen. Dann
plötzlich Stille. „Wir sind im Auge des Taifuns,“ erklärt der Vater. „Diese
Ruhe wird etwa fünfzehn Minuten andauern, dann bricht der Sturm wieder los.“
Der Junge will kurz ans Meer. Der Vater erlaubt es ihm.
Sprecherin: K. sah mich und kam ebenfalls
nach draußen. „Wo gehst du hin?“, fragte er. „Ich will mal am Meer
nachschauen“, erwiderte ich. Wortlos schloss er sich mir an, und auch sein
kleiner weißer Hund folgte uns. „Aber sobald Wind aufkommt, müssen wir sofort
zurück“, sagte ich, und K. nickte stumm. (S. 199)
Musik 2: Tomorrow
Titel: tomorrow; Text: Elena Tonra; Interpretin: Daughter;
Album: If You Leave; Label: 4ad/Beggars Group/Indigo; LC: unbekannt
Autor: Die beiden Jungen sind im Auge des
Taifuns. Sie gehen an den Strand. Begutachten die angespülten Dinge.
Plastikspielzeug. Möbelteile und Kleidung. Zerbrochene Kisten mit fremder
Schrift. Das Meer ist erstaunlich ruhig. Hat sich weit zurückgezogen, weiter
noch als normalerweise bei Ebbe. Plötzlich ist es wieder da. Ganz nah. Nur zehn
Zentimeter von den beiden entfernt. Dann zieht es sich erneut zurück und kommt
nicht wieder. Dem Erzähler ist das unheimlich. „Los, wir hauen ab!“, ruft er
dem Freund zu. Aber der hört nicht.
Sprecherin: Dann hörte ich ein Donnern. Es
war so laut, dass es beihnahe die Erde erbeben ließ. Oder, nein – vor dem
Donnern hörte ich noch ein anderes Geräusch, ein eigenartiges Gurgeln, als
würden große Mengen Wasser aus einem Loch hervorsprudeln. Kurz darauf
verschwand es, und ich hörte das seltsame Donnern, das sich immer mehr in ein
anhaltendes Brüllen verwandelte. (S. 200f.)
Autor: Der Freund scheint das jedoch nicht
zu hören. Der Erzähler will zu ihm hinüberrennen und ihn fortzerren. Er weiß,
die Welle kommt. Er will zum Freund. Aber seine Füße laufen in eine andere
Richtung. Allein läuft er zur Kaimauer. Von dort ruft er: „Achtung! Eine
Welle!“ Diesmal hört es der Freund. Aber es ist zu spät. Die Welle ist lautlos.
Hoch wie ein zweistöckiges Haus. Der Freund starrt fassungslos. Dann dreht er
sich zur Welle. Und wird verschlungen. Der Erzähler rettet sich hinter den
Damm. Danach kommt eine zweite Welle. Und es geschieht etwas Traumatisches.
Sprecherin: Ich kann es Ihnen nicht
verdenken, wenn Sie das, was jetzt kommt, unglaubwürdig finden; ich kann es ja
bis heute selbst kaum glauben. […] Im Kamm der Welle sah ich, wie in eine
durchsichtige Kapsel eingeschlossen, K.s Körper. Doch damit nicht genug, K. lächelte
mich sogar an. […] Sein eisiger Blick war auf mich geheftet, während er die
rechte Hand nach mir ausstreckte, als wolle er nach mir greifen und mich in
seine Welt hinüberziehen. Fast hätte die Hand mich erreicht, und K. grinste
mich noch breiter an. Danach verlor ich anscheinend das Bewusstsein. (S. 203)
Autor: Nach drei Tagen wacht der Erzähler
wieder auf. Es ist wie eine Auferstehung aus dem Totenreich, am dritten Tage.
Aber keine Befreiung. Er hat überlebt. Niemand macht ihm Vorwürfe. Der Freund
bleibt verschwunden. Seine Leiche wird nie gefunden. Aber er verfolgt den
Erzähler bis in die Träume. Der kann das grinsende Gesicht des Freundes nicht
vergessen. Seine ausgestreckte Hand. Immer wieder träumt er, ins Wasser gezogen
zu werden. Schreiend und schweißgebadet wacht er auf.
Er kann
nicht mehr an der Küste leben. Die Familie zieht ins Gebirge, in die Präfektur
Nagano. Aber die Träume bleiben. Und die Schuldgefühle. Er heiratet nicht. Er
will keine Partnerin mitten in der Nacht mit seinem Geschrei erschrecken. Das
Entsetzen, das ihm tief in den Knochen steckt, kann er mit keiner anderen
Person teilen.
Musik 3: Waves
Titel: Waves, Text: Dennis Stehr; Interpret: Mr.
Probz; album: Against the Stream; Label: Left Lane Records; LC: 100534.
Autor: Vierzig Jahre bleibt der Mann seiner
Heimatstadt fern. Die berühmten Vierzig, die eine Zeit voll machen: Wie beim
Zug des Mose durch die Wüste. Er fährt niemals ans Meer. Geht nicht einmal mehr
ins Schwimmbad. Dann stirbt sein Vater. Die Familie räumt das Haus auf und
findet einen Karton. Darin sind Bilder, die der ertrunkene Freund gemalt hat.
Die Familie schickt den Karton nach Nagano. Der Erzähler vermag kaum, die
Bilder zu betrachten. Aber dann zwingt er sich doch.
Sprecherin: Die meisten waren
Landschaftsbilder. Ich sah den vertrauten Strand, das Kiefernwäldchen dahinter
und unseren Ort. […] Wehmut ergriff mich. Die Bilder waren künstlerisch viel
besser, als ich sie in Erinnerung gehabt hatte. Der Junge K. hatte seine tiefsten
Empfindungen hineingelegt, und sein Blick auf die Welt war mir so vertraut wie
mein eigener. Ich erinnerte mich lebhaft und in allen Einzelheiten an die
Dinge, die wir unternommen hatten. […] Ja, genau, so hatte ich damals die Welt
gesehen, ungetrübt und lebendig, wie der Junge K. an meiner Seite. (S. 207)
Autor: Von da an betrachtet er die Bilder
jeden Tag. Manchmal versenkt er sich für Stunden in eines davon. Beim Anschauen
ist ihm, als dringe sanft etwas in ihn ein. Nach einer Woche geschieht eine
Veränderung mit ihm. Ein Gedanke steigt in ihm auf. Die Gewissheit von vierzig
Jahren verliert ihre Macht. Etwas Neues gewinnt Kraft. Ausgelöst durch die
Betrachtung der Bilder des Freundes.
Sprecherin: Vielleicht war ich bis jetzt
einem schrecklichen Irrtum erlegen? Vielleicht hatte K., als er im Kamm der
Welle trieb, mich gar nicht hasserfüllt angesehen und mich auch nicht mit sich
reißen wollen. Vielleicht hatte sogar sein Lächeln nur grausig gewirkt; sicher
war er doch gar nicht mehr bei Bewusstsein gewesen. Oder er hatte mir noch
einmal sehnsüchtig zugelächelt. […] Der Hass, den ich in seinem Blick erkannt
zu haben glaubte, war vielleicht nichts als ein Spiegel der tödlichen Angst
gewesen, die damals von mir Besitz ergriffen hatte. Je intensiver ich K.s
Aquarelle betrachtete, desto stärker wurde dieses Gefühl. Auch bei genaustem
Hinsehen entdeckte ich in ihnen nichts andres als K.s arglose, unschuldige
Seele. (S. 207f.)
Musik 4: Fragile
Titel:
Fragile; Künstler: Nils Landgren & Michael Wollny; Album: Fragile At
Schloss Elmau; Label: ACT Music +
Vision GmbH & Co. KG; LC: LC: 07644
Autor
(overvoice):
Der Mann meditiert die Bilder seines Freundes. Immer und immer wieder. Dabei
verändert sich etwas in ihm. Seine festen Gewissheiten lösen sich auf. Es
entsteht der Raum für etwas Neues. Für eine Erkenntnis. Er sieht endlich wieder
das wahre Wesen des Freundes. Er sieht eine Liebe, die er sich beim besten
Willen nicht vorstellen konnte. Weil seine Schuldgefühle stärker gewesen sind
und alles überlagert haben. Erst die immer neue, stundenlange Betrachtung hat
etwas verändert.
Musik 4: Fragile
(freistehend)
Autor: Die Erzählung ist voller
religiöser Symbole. Die drei Tage in der Schlafwelt des Todes. Wie bei Jesus,
der nach seiner Hinrichtung drei Tage lang tot war. Die vierzig Jahre in der
Wüste. Von Mose wird in der Bibel erzählt, wie er vierzig Jahre lang durch die
Wüste des Sinai zieht. Zusammen mit seinem ganzen Volk. So lange kann es
brauchen, bis ein einschneidendes Ereignis verarbeitet ist. Und das Gefühl von
Schuld, das sich vielleicht damit verbindet.
Auch vor dem
Wüstenzug der Israeliten gibt es eine schreckliche Flutwelle. Nach dem
biblischen Bericht fällt ihr eine ganze Armee zum Opfer. Für die flüchtenden
Israeliten ist das eine Rettung. Ihre Verfolger werden vernichtet. Aber wie
schrecklich ist dieses Ereignis für die verfolgenden Ägypter! Können die
Flüchtenden nicht auch denken, dass ihre Rettung teuer erkauft worden ist? –
Auch Sturm und Schiffbruch, Träume und Angst begegnen immer wieder in der
Bibel. Und der lange Weg zur Heilung.
Der
japanische Schriftsteller Haruki Murakami ist vertraut mit westlichen
Traditionen. Bestimmt ist das einer der Gründe für seinen Erfolg in der
westlichen Welt. Immer wieder verwendet er jüdische und christliche Symbole.
Genauso wie Motive der japanischen Kultur.
Am tiefsten
berührt mich in dieser Erzählung die Bedeutung der Bilder. Tagelang betrachtet
der Überlebende die Zeichnungen des toten Freundes. Vierzig Jahre nach den
traumatisierenden Erlebnissen. Stundenlang sitzt er manchmal vor einem Bild.
Meditiert es. Verhärtete Überzeugungen wandeln sich dabei. Versteinertes gerät
in Bewegung. Und am Ende wird seine Seele geheilt.
Mich
erinnert das daran, was in der Meditation geschieht. Dabei nehme ich mir
ebenfalls viel Zeit. Ich lese einen Text. Käue ihn wieder und wieder. Nehme
seine Bilder in mich auf. So versuche ich, mich der Person Jesu zu nähern. Dem
toten Freund. Die alten Texte sagen, dass er auch durch meine Schuld gestorben
ist. Und ich frage mich, wie das sein kann.
Die Rede von
Schuld und Strafe, ja sogar von Gottes Zorn, kann mein Bild von Gott
verdunkeln. Besonders, wenn sich das Gefühl einer Schuld tief in mir verankert
hat. Weil ich es vielleicht schon lange in mir trage. So wie der Mann aus
Murakamis Erzählung. Oder wie ein Kind, dessen Verhältnis zu seinen Eltern
voller Konflikte ist. Dem lange vermittelt worden ist: Es ist deine Schuld,
wenn wir streiten. Weil du dich unseren Regeln widersetzt. Weil du uns nicht
respektierst.
Vergiftet
werden diese Schuldgefühle, wenn sie religiös überhöht werden. Wenn ein Kind
auf seiner Meinung beharrt und damit nicht nur die Eltern provoziert. Sondern
angeblich auch noch gegen das Gebot verstößt, Vater und Mutter zu ehren. Oder
wenn ein jugendlicher Mensch in sich eine sexuelle Orientierung entdeckt, die
scheinbar dem überlieferten Willen Gottes widerspricht. Das Kind ist nicht
Schuld am Streit der Eltern. Und der junge Mensch darf sein, wie er oder sie
ist. Mit Schuld hat das gar nichts zu tun. Aber es wird Menschen eingeredet.
Immer wieder
flüchten manche deshalb vor Gott. Sozusagen in die Berge, wie der Mann aus
Murakamis Erzählung. Aber die Flucht heilt keine Wunden. Ich muss mich
auseinandersetzen. Ich kann mich in die Bilder von Jesus versenken. Kann dabei
seine arglose, unschuldige Seele entdecken. Und erkennen, dass mich nichts von
Gottes Liebe trennen kann. So erlebe ich es, wenn ich die alten biblischen
Texte lese und meditiere.
Vielleicht
finden auch Sie einen solchen Weg, der Sie verbindet mit Gott und der alte
Wunden heilt. Einen besinnlichen Sonntag wünscht Ihnen Pfarrer Sven Keppler von
der Evangelischen Kirche in Versmold.
Musik 4:
Fragile
Quellen:
Haruki
Murakami, Der siebte Mann [1996], in: ders., Blinde Weide, schlafende Frau.
Erzählungen, Köln 2006, S. 195-210.
Joseph
Conrad, Herz der Finsternis [1899], in: ders., Jugend. Herz der Finsternis. Das
Ende vom Lied. Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurt a. M. 1968, S.
59-191
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth