
Autor: Nun ist wieder November. Der graue
Monat mit den Feiertagen der kalten Füße. Denn es geht auf den Friedhof. Der
katholische Feiertag „Allerseelen“ liegt frisch hinter uns. Der evangelische
Toten- und Ewigkeitssonntag kommt noch – wie immer am Monatsende. Das ist das
Minimum: einmal im Jahr zu den Gräbern der eigenen Leute. Bei mir ist das so:
Ich bin sehr oft auf einem Friedhof zu finden. Und das liegt nicht nur daran,
dass für mich als Pastor Bestattungen einfach ein Schwerpunkt meiner Arbeit
sind. Gerade in meiner Freizeit gehe ich gern die stillen Wege unter hohen
Bäumen. Ich tue das zwischendurch auf den vertrauten Friedhöfen der Stadt, in
der ich lebe. Aber auch mit besonderer Leidenschaft im Urlaub auf unbekanntem
Terrain. Ob alt oder neu: die Grabsteine machen mich mit dem wahren Geist einer
Stadt vertraut, besser als jeder Touristenführer es könnte. Und die Inschriften
mancher Steine ziehen mich wirklich in ein lebendiges Gespräch über Gott und
die Welt, über Zeit und Ewigkeit. Grabsteine können so für mich zu echten
Lebenszeichen werden. Ich meine das ganz ernst. Wenn Sie mögen, dann unternehmen wir jetzt gemeinsam
einen kleinen Friedhofsgang – zu ein paar Grabsteinen, die mir besonders zu
Lebenszeichen geworden sind, zu echten Zeichen für das Leben. Das könnte uns
gut tun – gerade jetzt im November…
Musik 1: Ist Gott für mich, so trete
Melodie: Traditional; Interpret: David Qualey; Album: Begegnungen; Label:
Gesangbuchverlag Stuttgart GmbH; LC: unbekannt
Autor: Der erste Grabstein ist schon alt
und sieht aus wie ein Denkmal: eine Figur auf einem Sockel, der mit Inschriften
versehen ist. Die Figur ist Christus. Ziemlich ramponiert schon, besonders die
Nase hat mal etwas abgekriegt. Aber dieser Christus hebt immer noch gelassen
segnend eine Hand über uns und über die, die hier liegen. Im Sockel ist auf
einer Seite zu lesen, dass hier ein königlicher Lokomotivführer und seine Frau
bestattet wurden. Sie starb vor ihm, gerade mal 45 Jahre alt. Unter ihren
Lebensdaten steht ein kleiner gereimter Liebesbrief in verwitterten, gerade
noch erkennbaren Buchstaben. Kein Zitat berühmter Dichterworte, sondern
offenbar vom Ehemann selbst aufgesetzt. Wir lesen da: „O könnten Tränen dich beleben, ich weinte
Gruft und Asche voll. / Doch schlaf! Der Trost ist mir geblieben, dass ich dich
wiedersehen soll.“ Zwei Zeilen: eine für den Liebesschmerz, eine für die
Liebeshoffnung. Und die Zeilen reimen sich. Auf einer anderen Sockelseite ist
noch ein kontrastreicher Satz eingraviert. Lapidar und ohne Reim heißt es da:
"Das Grab trennt, aber die Liebe höret nimmer auf“. Da hat der Witwer die Begründung für den gereimten Brief an
seine Frau angegeben. Keine Worte von ihm, ein Zitat aus der Bibel. Apostel
Paulus, 1. Brief an die Korinther, Kapitel 13, Vers 8: „Die Liebe höret nimmer
auf“, – Aber warum ist das so? Warum bleibt die Liebe? Die Liebesgeschichte
zwischen den beiden, die hier liegen: es ist ja die von zwei sterblichen
Menschenkindern, also eben eine sterbliche Geschichte. Und es heißt ja auch in
der alten Formel bei einer Trauung: „bis dass der Tod euch scheidet“. Ja, das
Grab trennt. Und dass die Liebe nimmer aufhört, das kann nicht an uns Menschen
liegen. Der Apostel und der Lokomotivführer sind sich einig darüber, woran das
liegt. Genauer gesagt: an wem. Es ist der da über den Inschriften auf dem
Sockel: der Tote und Lebende segnende Christus mit seinem ramponierten Antlitz.
Bei jeder Bestattung sage ich nämlich als Pastor ein Wort von Paulus auf, kurz
bevor Sarg oder Urne in die Erde gelegt werden. Römerbrief, Kapitel 8, am Ende:
„Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, … weder Gegenwärtiges noch
Zukünftiges… uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus
ist, unserm Herrn.“ Deswegen kann ich bei jeder Trauung den zwei Leuten vor mir
sagen, dass ihre sterbliche Liebesgeschichte unterschlüpfen kann in die ewige
Liebe Gottes zu ihnen. Und deswegen konnte der königliche Lokomotivführer unter
die Jesusfigur einen Liebesbrief an seine Frau ritzen lassen, ein Brief voller
Schmerz und voller Hoffnung – und er konnte gewiss sein: Der Brief kommt an!
Musik 1: Ist Gott für mich, so trete
Autor: Wir sind zum nächsten Grabstein
gegangen. Er ist ziemlich neu und auch er hat eine unübliche Form: Eine
einfache hohe Stele aus schwarzem unpoliertem Stein. Oben ist aus dem Stein ein
Kopf herausgearbeitet worden: der einer alten Frau, ein flächiges Gesicht mit
einem klaren Blick. Der Mund lächelt nicht. Und doch strahlt das Gesicht
überhaupt keine Unfreundlichkeit aus, sondern nur eine verlässliche
Gradlinigkeit. Vorne auf der Stele stehen Name und Lebensdaten, mehr nicht.
Eine „Emma“ liegt hier, der Name passt zu diesem Gesicht – und sie wurde
immerhin 83. Nun wollen wir den Charakterkopf auch im Profil sehen, gehen ein
Schritt zu Seite – und können deswegen noch etwas Wunderschönes entdecken. In
die Seitenfläche des Steins ist unten ein ganz kurzer Satz gehauen: “Oma ist die Beste“.
Auf der Vorderseite darf so ein persönlicher Satz nicht stehen. Das wäre irgendwie
zu laut. Nun können die Enkelinnen und Enkel von Oma Emma hierher kommen – sich
ihren Satz von der Seite hervorholen und damit ihre Erinnerungen verbinden.
Hier darf nicht stehen: "Oma war die Beste", der Satz muss so
lauten, wie er zu Lebzeiten dieser Frau immer wieder gesagt worden ist. Es geht
offenbar um die Erinnerungen an eine Oma, auf die du dich verlassen kannst, bei
der du unterschlüpfen kannst, die dich deinen Eltern gegenüber verteidigt, die
dir aber auch kräftig und liebevoll am Küchentisch die Meinung sagt, wenn sie
glaubt, dass du einfach spinnst. Ich stelle mir vor: solche und unzählig andere
Erinnerungen kann die Enkel-Generation hier am Grab pflegen. Und vielleicht
sind die Erinnerungen so präsent, dass du als Enkelkind hier plötzlich wieder
an Omas Küchentisch hockst und du genau weißt, was sie zu sagen hat zu dem, was
dich gerade so umtreibt und beschäftigt. Nein, die klare Geheimbotschaft an der
Seite darf nicht anders lauten: Oma ist die Beste.
Musik 2: Morgenlicht leuchtet
Melodie:
Traditional; Interpret: David Qualey; Album: Begegnungen; Label: Gesangbuchverlag Stuttgart GmbH; LC: unbekannt
Autor: Und nun bleiben wir vor einem Grab
stehen, auf dem zwei Steine zu sehen sind, merkwürdig angeordnet. Diagonal
gegenüber hinten und vorne in die Ecke wurden sie gesetzt. Und die Steine sind
gleich geformt – wie zwei Eckbänke. In dem hinteren Stein ist eingraviert, dass
hier eine Ärztin bestattet wurde. Und in dem vorderen steht in schwungvoll-weicher
Schrift eine Mitteilung – von dieser Frau! Wir lesen: „Lieber Freund, hier lass
dich gemütlich nieder – und komm zu Ruh.“ Eine Einladung also, sich hier
wirklich auf dem Grab auf diesen Stein zu setzten, sogar „gemütlich“
Platz zu nehmen. Ich stelle mir vor, dass diese Frau eine wunderbare Ärztin
gewesen sein muss, eine, die sich Zeit ließ in der Sprechstunde – mit klarer,
gelassener Zuwendung. Und sie mag mit dieser Inschrift erstmal einen konkreten
Freund im Blick gehabt haben, einen vielleicht immer etwas nervösen. Aber die
Einladung gilt auch jedem fremden Menschen, der hier stehen bleibt, so wie
früher jeder Patient beim Hereinkommen erstmal einen Platz angeboten bekam. Ich
muss jetzt an ein anderes Grab denken, das ist diesem sehr verwandt. Nur drei
flache Steine auf der Erde gibt es da, auf dem einen sind Name und Lebensdaten
des hier bestatteten Mannes eingraviert, auf dem zweiten eine schlichte
Zeichnung: eine Bank mit zwei in Dialog vertieften Gestalten, und bei einer
sind hinten Flügel angedeutet. Auf dem dritten Stein steht: „Komm, lieber
Freund, setz dich neben mich. Wie geht es dir heute? Erzähl´s mir.“ Gewiss wird
damit wieder zunächst ein bestimmter Gefährte aufgefordert, hier die früher
gewohnten Gespräche fortzusetzen. Ich weiß aber noch genau: als ich diesen
Einladungs-Stein zum ersten Mal gesehen habe, da ist mir ein vor langer Zeit
schon gestorbener Studienfreund eingefallen – und in der Tat: dem hab ich dann
in Gedanken erzählt, wie es mir geht. An diesem fremden Grab. Und es ist mir,
nach langer Zeit, die Stimme des Freundes wieder in den Sinn gekommen und seine
Lebenseinstellung. Es wurde ein richtiger Dialog. Und es hat sich gar nicht
merkwürdig angefühlt, mit einem Toten zu reden. Typisch eben für Gespräche auf
dem Friedhof. Ein Enkelkind mit seiner toten Oma, eine Frau mit ihrer besten
Freundin, ein Witwer mit seiner Liebsten. Martin Luther hat einmal geschrieben,
„dass wir solche Kreaturen sind, mit denen Gott reden will in Ewigkeit und
unsterblicherweise.“ Da können wir eben unterschlüpfen mit unserem Weiterreden.
Musik 3: Wer nur den lieben Gott lässt
walten
Melodie: Georg Neumark; Interpret: David Qualey; Album: Begegnungen;
Label: Gesangbuchverlag Stuttgart GmbH; LC: unbekannt
Autor: Und nun gehen wir auf einen
unscheinbar kleinen Grabstein zu, nur grob behauen.
Was mich anzieht: Es sieht so aus,
als habe jemand ein braun-schimmerndes Blatt Papier auf dem Stein abgelegt, in
normaler Größe Din A4. Und irgendwas liegt darauf, das dafür sorgt, dass es
nicht vom Wind fortgetragen wird. Jetzt stehen wir vor dem Stein und sehen: Das
Blatt ist aus Bronze, genau wie die detailgetreu nachgebildete Flöte, die hier
als Briefbeschwerer fungiert. Wer sich nah darüberbeugt, erkennt: das
Bronzeblatt ist ein Notenblatt, wie mit der Hand beschrieben. Eine Melodie. Es
ist ein sehr bekanntes Lied. Der Textanfang steht obendrüber. In etwas herber
Handschrift – vielleicht die des Mannes, den man an dieser Stelle bestattet
hat. Als ich zum ersten Mal hier stand und das Lied sah, da blieb mir der Mund
offenstehen. Dann aber streiche ich mit dem Zeigefinger darüber und fange ganz
leise an zu singen, hier auf dem Friedhof, ich kann nicht anders:(leise
singen) „Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen“ – tatsächlich: das
schöne Geburtstagslied! Wie oft ist dem Mann, der hier begraben liegt, dies
Ständchen zu Lebzeiten gebracht worden – und wieviel öfter noch hat er es für
andere angestimmt? Und nun hier auf dem Friedhof, was bedeutet da das Lied? Die
Antwort gibt mir eine der kostbarsten Beileidskarten, die ich je gesehen habe.
Eine Witwe hat sie mir beim Trauergespräch gezeigt vor der Beerdigung ihres
Mannes. Eine himmelblaue Karte. Vom siebenjährigen Nachbarskind. Selbstgemacht.
Vorne ein großes schwarzes Kreuz, auf einem Querbalken-Ende noch ein
gelb-leuchtendes Kreuzchen dazu gemalt, wie ein Vöglein auf einem Ast. Und
innen der Gruß. Er lautet: „Lieber Herr Geldermann, leider sind Sie gestorben!
Ich wünsche dir trotzdem viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen! Deine
Alina“ Als Beileids- und Trost-Post an die Witwe steckt dieses weise Kind ihr
diese Glückwunschkarte an den gestorbenen Nachbarn in den Postkasten. Und nimmt
dazu einfach das vertraute Geburtstagslied zur Hilfe. Und muss deswegen so
zauberhaft vom „Sie“ zum „Du“ übergehen. Für mich bedeutet das im Blick auf den
Grabstein, auf dem obendrauf dies Lied zu finden ist: wer hier steht, der soll
es singen! Ruhig auch mit voller Stimme. Für den Toten. Und man darf dabei das
Gefühl haben: der musikalische Mann singt mit. Man kann es hören, nicht mit dem
äußeren Ohr, aber mit dem inneren schon. Der Mann singt für die, die zu seinem
Grab gekommen sind. Es ist ja ein Kanon. Da kann man schön nacheinander einsetzen
mit den Stimmen. Und nach dem Gesang macht sich jeder wieder auf den Weg, auf
den gesegneten Weg, die einen auf Erden, der andere schon im Himmel…
Musik 3: Wer nur den lieben Gott
lässt walten
Autor: Ich bringe uns zum letzten Grabstein
für heute. Auf dem Weg dorthin passieren wir die Friedhofsmitte. Da steht ein
großes schwarzes Kreuz, genauso eins, wie es Alina auf ihre Trostkarte gemalt
hat. Nur das kleine Leuchtkreuz auf dem Querbalken fehlt leider. Trotzdem ist
es mir das liebste unter allen großen Friedhofskreuzen, die ich kenne. Das
liegt daran, dass in hellen Buchstaben auf der ganzen Länge des Querbalkens
steht: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen! – Jesaja 43,1“. Gott sagt das
an dieser Stelle. Dieser Spruch ist auch auf vielen Grabsteinen zu finden. Ich
bin überzeugt: Gerade wenn ein Mensch gestorben ist, hört Gott nicht auf, ihn
persönlich mit Namen anzusprechen. Da kann ich doch erneut unterschlüpfen und
es mit denen, die mir gestorben sind, auch so halten. Mit solchen Gedanken sind
wir beim Schluss-Stein angekommen. Auf ihm traut sich ein Mensch auf einmalige
Weise, einen geliebten toten Menschen beim Namen zu nennen. Auf fast
rosafarbenem Marmorstein ist groß der Name eingeritzt. Eine Miriam liegt hier
begraben. Groß auch die Jahreszahlen. Als ich diesen Stein entdeckt habe, da
bin ich deswegen näher auf ihn zugegangen, weil ich aus der Ferne gelesen
hatte, dass diese Frau wie ich 1964 geboren ist – ein paar Wochen nach mir.
Gestorben ist sie schon vor über 20 Jahren. Erst als ich dicht vor dem Stein stehe,
kann ich den Text darunter lesen, in viel kleinere Schriftgröße eingraviert. Es
ist ein poetischer Liebesbrief des Witwers, länger als der kurze Brief des
Lokomotivführers. Hier gibt es sogar Anrede und Unterschrift, als wäre der
Brief auf Papier geschrieben und käme gleich in den Umschlag. In einfachen und
wundersamen Worten steht da:
„Miriam du weißt, ich war heute
alleine am Meer.
Wie immer war es voll von Wasser.
Der Himmel war wie immer voll von
Wolken
Und der Strand wie immer voll von
Sand.
Nur ich war ziemlich leer.
In einem zugigen Strandcafé
Schlürfte ich einen heißen Tee
Und schrieb in meiner Not
Mit Sirup deinen Namen auf mein Brot.
Leise habe ich noch mal gelesen
Und du bist wieder da gewesen.
In Liebe Dein Andreas“
Wie gut, dass dieser Mann so verrückt
war, den Grabstein seiner Liebsten als Briefpapier zu benutzen! Dass wir diese
Zeilen mitlesen dürfen! Möge der Witwer an diesem Grab immer wieder gespürt
haben: dieser Brief erreicht die Adressatin, erreicht die, die hier von ihm so
unvergleichlich bei ihrem Namen genannt wird.
Und jetzt muss ich mich von Ihnen
verabschieden. Da vorne ist der Friedhofsausgang. Ich muss an meinen
Schreibtisch und meiner Frau – wie schön, dass sie lebt – endlich mal wieder
einen richtigen Liebesbrief schreiben und auf die Treppe legen. Und dann wird
es mir gut tun, noch ein paar Zeilen an einen vor langer Zeit gestorbenen
Studienfreund aufzusetzen. Leben Sie wohl! Einen gesegneten Novembersonntag –
und wenn Sie demnächst mal wieder auf einem Friedhof sind: gute Gespräche mit
lebendigen Steinen! Das wünscht Ihnen Pastor Christian Casdorff aus Soest
Musik 2: Morgenlicht leuchtet
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth